Ein Hauptbestandteil der FORMENLEHRE ist die Deklination des Substantivs. Anders als das Hochdeutsche hat die Aachener Mundart, wie nun zu zeigen ist, im Sinne eines ökonomischen Sprechens die Vereinfachung der Formen extrem weit vorangetrieben, weiter als etwa das Englische. Zugleich hat sie, zumindest in Ausnahmefällen, die alten besonderen Formen bewahrt und verwendet sie bei geeigneter Gelegenheit durchaus weiter, hat sie also nicht vergessen.
Der Nominativ des Substantivs einschließlich des dazugehörigen bestimmten und unbestimmten Artikels lautet:
Masculinum: d’r Man / ene Man – der Mann / ein Mann (Verneinung: jenge Man – kein Mann)
(„Man” hat ein langes a; hingewiesen sei auf das (er) bei der Aussprache des „d’r”)
Aussprache (er)
Femininum: de Frau / en Frau – die Frau / eine Frau (Verneinung: jeng Frau – keine Frau)
Neutrum: et Kenk / e(n) Kenk – das Kind / ein Kind (Verneinung: jeä Kenk – kein Kind)
Bemerkenswert bleibt, dass im übrigen Frauen und Mädchen grammatisch als Neutra behandelt werden:
Do könt et Marie-Luwiss. – Het es en asserante Prijj. – Wova hat dat dat da?
(Da kommt (die) Marie-Luise. – Sie ist ein freches Frauenzimmer. – Woher hat sie das denn?)
Der Akkusativ erfordert üblicherweise keine eigene Form, sondern wird mit der Nominativ-Form gebildet:
Hooel d’r Emmer. – Hol den Eimer.
Hooel deä Emmer. – Hol diesen Eimer.
D’r Man röfft d’r Honk. – Der Mann ruft den Hund.
Der Dativ kann, gleichsam in einem Nachrückverfahren, von einer ursprünglichen Akkusativ-Form übernommen werden:
Hooel mich deä Emmer. – Hol mir diesen Eimer.
Doch kann die Nominativ-Form auch für den Dativ stehen:
Nu jevv deä Honk doch jät ze frejße. – Nun gib dem Hund doch etwas zu fressen.
Do joev d’r Man d’r Honk d’r Knouch. – Da gab der Mann dem Hund den Knochen.
E jejevve Peäd kickt me net een de Mull. – Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.
Dat Peäd ka me de Rebbe zälle. – (An) diesem Pferd kann man die Rippen zählen, so mager ist es).
Dat es deä, deä deä Buur jeköllt hat. – Das ist derjenige, der diesen Bauern irregeführt hat.
Der Genitiv wird wie im Englischen oder Französischen mit Präposition gebildet:
Et Kenk va(n) d’r Nonk. – Das Kind des Onkels (Vetter/Cousin oder Cousine).
Allerdings kann selbst der Genitiv durch den puren Nominativ ausgedrückt werden:
Moddere Döppe. – Mutters Topf (eig. Mütter-Topf).
Moddere Kenk. – Mutters Kind(er).
Daneben gibt es durchaus ursprüngliche Genitiv-Endungen:
Vööl Jlöcks! – Viel Glück (des Glücks)!
Öm Joddes Well. – Um Gottes willen.
Een Düvels Klaue. – In des Teufels Klauen.
(1385 heißt es einmal – so Hermanns nach Laurent – „umb pertz wille” – des Pferdes wegen).
Ähnliches gilt für den Dativ. Neben der Dativ-Verwendung des Nominativs gibt es sowohl die präpositionale Bauweise (engl. to me, frz. à quelqu’un):
Ich saat a deä Man – Ich sagte diesem Mann
als auch echte ursprüngliche Formen:
Ich saat a däm (dem) / döm – Ich sagte diesem
Däm es alles ejal – Diesem Herrn ist alles gleichgültig.
Vgl. auch die Formen wöm (wem), höm/häm (ihm), dör (der, Femininum), hör (ihr, Possessivpronomen, Femin. Singular).
Et es em. – Er ist’s (so bei Mörike), auch: Sie ist’s; vgl. engl. That’s me – Ich bin’s.
Eigene Genitiv- und Dativ-Formen existieren also sehr wohl.
Erstaunlicherweise kann auch mit einer originären Dativ-Form der Akkusativ zustande kommen:
Hass de däm jesiieh? – Hast du den gesehen?
Und der Dativ kann in Verbindung mit einem Possessiv-Pronomen einen Genitiv ersetzen:
dem sing Frau – dessen Frau
dör höre Frönd – deren (Singular) Freund
dön hön Frönnde – deren (Plural) Freunde.
Wie nicht anders zu erwarten, reicht jedoch auch hier der Nominativ:
D’r Jupp sing Frau – Josefs Frau
Mi Brur singe Jong – Mein Neffe.
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Von einer bloßen Beliebigkeit der Substantivformen kann aber keine Rede sein, auch wenn alle Kasusformen, wiewohl vorhanden, bis auf den Nominativ entfallen können. Sie werden nur bei Bedarf verwendet und sind zum Teil austauschbar, können also funktional, je nach Erfordernis verschieden eingesetzt werden. Mit anderen Worten: der Dativ (als Beispiel) kann vom Nominativ übernommen, eventuell zur Verdeutlichung durch die Akkusativform vertreten oder erst äußerstenfalls durch eine eigene Dativ-Form ausgedrückt werden. Nicht sprachliche Verarmung also, sondern ein hohes Maß an Flexibilität und funktioneller Ökonomie ist festzustellen. Grammatik entpuppt sich in diesem System nicht als Ansammlung von Geboten und Verboten, sondern als Feld der Angebote und Möglichkeiten.