Interview zum neuen Aachener Sprachschatz

Hier ein wunderbarer Artikel von Bernd Büttgens zum NEUEN SPRACHSCHATZ aus der Aachener Zeitung vom 11.03.2011:

Was ist der Plural von Vouel? Vöüel? Oder Vöjjel?
Ein sprachwissenschaftliches Plädoyer für die beherzten Worte in Öcher Platt. Der Linguist Dr. Karl Allgaier schwelgt in üppigen Tönen. –

Dr. Karl Allgaier, der Sprachwissenschaftler des Vereins Öcher Platt, weiß die Heimatsprache auch in der Tiefe zu deuten. Gemeinsam mit Meinolf Bauschulte und Richard Wollgarten ist ihm mit dem „Neuen Aachener Sprachschatz“ ein großer Wurf gelungen. Foto: Bernd Büttgens

Von Bernd Büttgens

Aachen. Achtung, jetzt wird’s wissenschaftlich! So könnte man das Folgende einleiten. Und um die Vertiefungsrichtung der fachlichen Exkursion vorzugeben, sollten wir vielleicht mit einem „Oes noch!“ oder einem eher vertraulichen „Hür!“ beginnen. Öcher Platt, genau, eine Wissenschaft für sich, das wissen alle, die sich der Sprache nähern – ob Ureinwohner der schönen Stadt des Kaisers oder Zuge- reiste.

Dr. Karl Allgaier kennt als Sprachwissenschaftler die Antworten auf die grundlegenden Fragen. Und wie er an seinem Schreibtisch sitzt und sich genüsslich durch die geschätzten 27 Diphthonge, die Doppellaute, des Öcher Platts eut, eit und aut – da hüpft das Aachener Herz vor Freude. „In der Hochlautung kommen wir mit vier Diph-thongen aus, au, ei, eu, ui, aber im Öcher Platt…“, Allgaier holt Luft und greift zum Beispiel: Dass Knouche (also Knochen) einen anderen Klang hat als Kouh (die Kuh) oder Boum (der Baum) wird im Gespräch schnell klar. Man kann es hören! Hier in der Zeitung klingt der Unterschied nicht ganz durch, aber die Knouche tendieren leicht zum au, die Kouh geht Richtung ouw und der Boum liegt recht nahe beim oo.
Allgaier schwelgt im Wohlklang der Heimatsprache. Im Gepäck hat er eine zehnjährige akribische Arbeit an dem „Neuen Aachener Sprachschatz“, den er gemeinsam mit Richard Wollgarten und Meinolf Bauschulte auf den Weg gebracht hat und der kurz vor Weihnachten in den Handel ging.

„Das ist eine Rechtschreibreform, die wir da vollzogen haben“, schwärmt der promovierte Germanist, der im Brotberuf Leiter der Bischöflichen Akademie ist. Basierend auf dem Standardwerk von Will Hermanns haben die drei Öcher Platt-Enthusiasten einen neuen „Duden der Heimatsprache“ entwickelt – mit ein paar grundsätzlichen Worten und Regeln zur Einführung, einem Platt-Hochdeutsch-, aber auch einem Hochdeutsch-Platt-Teil. Grob geschätzt werden 20000 Öcher Platt-Worte vorgestellt, übersetzt und auch jeweils in einem oder mehreren Beispielsätzen angeführt. Ein üppiger Sprachschatz und – das als subjektive Anmerkung am Rande – jeden seiner 63 Euro wert.

Es gab heftige Debatten im Hintergrund. So hat es dem Vernehmen nach einen wortreichen, ganz an der Sache orientierten Richtungsstreit gegeben um die Plural-Schreibweise des schönen Wörtchens Vouel (der Vogel). Während die Reformkräfte der Sprachschatz-Redaktion auf Vöüel drängten, kämpfte der verehrte Heimatdichter Hein Engelhardt für Vöjjel – und genau so ist das nun in Klammern im Sprachschatz vermerkt („auf besonderen Wunsch unseres Heimatdichters…“).

Allgaier ist nachhaltig beeindruckt von der tiefreichenden Auseinandersetzung mit der Heimatsprache, die ihm sein Großvater, der Öcher Dichter Matthias Savelsbergh, in die Wiege vererbt hat: „Wir sind in unserem Buch zu einem linguistisch verantwortbaren Konzept gekommen, haben die Schreibweisen vereinheitlicht und erläutert.“ Man muss sich daran gewöhnen, dass nöjj mit Doppel-J und nicht nöi jeschrieben, pardon, geschrieben wird, aber logisch ist es in der Gesamtbetrachtung der Arbeit dann doch.

Bauschulte, zugereister Musiker mit feinem Gehör, Wollgarten, der native Sprecher mit dem gewaltigen Wortschatz, und Allgaier, der Linguist, bilden ein schlagkräftiges Trio, das sich auch keinesfalls sträubt, die Ergebnisse der Öcher-Platt-Forschung im Expertenkreis zu diskutieren.

„Öcher Platt ist wieder in“, sagt Allgaier, immer mehr junge Leute wollen es sprechen. Der Thouet-Mundartpreis hat dazu beigetragen, der Verein Öcher Platt und viele mehr. „Es blüht auf“, sagt der Wissenschaftler nicht ohne Freude, „und es lohnt sich, weil wir so ein Stück Heimat und Identität bewahren.“

Das Öcher Platt ist formenreich. Wie gesagt: 27 Diphthonge, rund 90 verschiedene Konsonanten, Pluralvielfalt (etwa bei Kenk, das Kind: de Kenk oder Kenger), manche Buchstaben verschwinden, wie das G am Wortanfang, das einheitlich dem J weicht. Und die Fachdebatte über die Unterschiede zwischen tz und zz (zz immer, wenn im Hochdeutschen rz steht: Hazz/Herz; Fozz/Furz; tz bei Metz/Messer oder Krütz/Kreuz) ist ebenso erbaulich wie die Verballhornung von Fremdwörtern. Merssi doför! Diese Sprache – auch skeptische Betrachter sehen es schnell ein – ist unschlagbar. Wer sich tief hinein begibt, wird seine Freude haben: etwa am Daag (der Tag), an den Dag (die Tage) oder dem Daach (das Dach).

„Das Hochdeutsche ist der straffe, harte Stuhl unseres Arbeitsalltags“, spricht Allgaier in Bildern, „und abends auf dem Sofa, wenn es gemütlich wird, dann haben wir unser schönes Platt.“

Man kann stundenlang mit dem Sprachwissenschaftler des Vereins Öcher Platt über die Heimatsprache philosophieren. Und man erfährt, wie reich der Aachener Sprachschatz ist. Auch dass er über ein 200-jähriges Schrifttum gründlich dokumentiert ist und dass wir Öcher im gut ausgestatteten Revier des ripuarischen Sprachstammes bestens aufgestellt sind.

Auch wenn die Mundart sich nicht mehr weiterentwickelt, auch wenn es in erster Linie darum geht, den Sprachzustand zu konservieren, was Allgaier&Co. so aufopferungsvoll mit ihrer Arbeit garantieren, ist das Schönste, was einer Sprache passieren kann, eben das: dass sie gesprochen wird.

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Karl Allgaiers zehn Lieblingsbeispiele

Es gibt wunderbare Begriffe und Besonderheiten im Öcher Platt. Die Top Ten für Karl Allgaier sind:

  1. Et Roeseknöüchsje (der Ellbogenknochen, Musikantenknochen). Ein Musterbeispiel für die Vielfalt der Diphtonge. Für Ureinwohner sprechbar, dafür kriegen diese „Streichholzschächtelchen“ nicht hochdeutsch hin.
  2. D’r Tuen (der Ton). Beispiel für den sogenannten Svarabhakti-Laut, für das nachklappende schwache e hinter dem Vokal: oehne (ohne), Wietschaft (Wirtschaft), Lüew (Löwe).
  3. D’r Äärm (der Arm); aber Plural: de Ärrm.
  4. De Meelich (die Milch). Aus dem hochdeutschen Einsilber werden zwei Silben. Der Öcher neigt je nach Laune ohnehin dazu: aus d’r Berg wird dr Berig.
  5. D’r Platsch (der Platz), der Vokal wird nicht lang und nicht kurz gesprochen, ein halblanger Stoßton. Wichtig: d’r Plaatsch (die Pfütze, der Regenguss).
  6. Och härrm! Als Ausdruck höchsten Bedauerns unverzichtbar.
  7. Saukäs! Es ist zwar kein Öcher Platt, dann würde es Soukies (vgl. Svarabakhti-Laut Punkt 2) heißen.
  8. De Bemöjjhtsjrüll – der Mensch, der sich in alles einmischt, erhält das Doppel-J, um das Tempo im Sprechen anzukündigen. Das folgende h wirkt jedoch gleich bremsend.
  9. Heusch! (Langsam! Still! Ruhig!) Besonderheit: Das Wort für „langsam“ wird schnell gesprochen.
  10. D’r Behäjtskriemer. Ein schönes Wort für alle, die viel Lärm um nichts verursachen. Ohnedies haben die Öcher ein herrliches Repertoire an Schimpfwörtern. Sie sind aber alle zärtlich gemeint.